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Literarische Texte als Sprechanlässe im Deutschunterricht

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser!

Die vorliegende Studieneinheit wendet sich an Sie, die gerne lernen möchten, wie man literarische Texte lesen kann, so dass sie sich in ihrer Eigenheit und ihrem fremden Zauber entfalten können.

Der anhand der Materialien dieser Studieneinheit organisierte Unterricht wird auf der einen Seite von dem Text und seiner Struktur gesteuert, auf der anderen Seite von den Leserinnen und Lesern, die ihr Interesse, ihr Hintergrundwissen, ihre „Informationen aus eigenem Besitz“ an einen Text herantragen. Die Textsammlung möchte jede Leserin und jeden Leser dazu ermutigen, sich selbst mit eigenen Erfahrungen und Neigungen einzubringen.

Die textgebundenen Aufgaben fordern Sie dazu auf, sinnvolle Zusammenhänge zu bilden, kritisch zu reflektieren und sich Ihre eigenen Gedanken zu machen. Dabei soll betont werden: es gibt nicht eine Wahrheit, nicht eine Sichtweise und nicht eine Deutung.

Was hier vorliegt, ist also ein Angebot von Mitteln und Wegen, die fremdsprachliche Literatur und ihre Inhalte zu erschließen, Vorstellungen von und Einstellungen zur fremden Kultur (im Dialog mit der eigenen Kultur) emotional zu erkennen und Selbsterfahrungen zu machen.

1 Eltern-Kind-Beziehungen

Andere Zeiten – andere Sitten.

Die Alten zum Rat, die Jungen zur Tat.

Der Alten Rat, der Jungen Tat macht Krummes grad.

Jugend hat keine Tugend.

Junges Blut hat Mut.

Jugend will sich austoben.

Jugend wild, Alter mild.

Andere Jahre, andere Haare.

ung getollt, alt gezollt.

Alter schützt vor Torheit nicht.

Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. (F. Schiller)

Aus Kindern werden Leute.

Art lässt nicht von Art.

Wie die Alten sungen, so zwitschern die Jungen.

Kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen.

Kleine Kinder treten der Mutter auf die Schürze, große aufs Herz.

Wie man die Kinder gewöhnt, so hat man sie.

Erziehst du dir ’nen Raben, wird er dir die Augen ausgraben.

1.1 Generationen: Kontakte, Konflikte

Aufgabenblatt 1

„O tempora, o mores!“„Unsere Jugend liebt den Luxus, sie hat schlechteManieren, missachtet Autorität und hat keinen Respekt vor dem Alter. Die heutigen Kinder sind Tyrannen, sie stehen nicht mehr auf, wenn ein älterer Mensch das Zimmer betritt, sie widersprechen ihren Eltern, schwätzen beim Essen und tyrannisieren ihre Lehrer.“

L. Rathenow

Szenenwechsel

Lesehilfen

die Lichtung – eine Stelle im Wald, an der keine Bäume sind

abschalten – nicht mehr an seine Sorgen denken, sich entspannen

etw. langt – etw. reicht aus, genügt

etw. verpesten – die Luft mit einem unangenehmen Geruch oder mit schädlichen Stoffen füllen

sich in etw. verfangen – in etw. hängen bleiben

schlendern – gemütlich, mit Zeit und Ruhe spazieren gehen

gammeln – faulenzen

das Gestrüpp – viele wild wachsende Sträucher, die sehr dicht beieinander stehen

der Senker – der Teil einer Pflanze, den man abschneidet und in Wasser oder in Erde steckt, damit er Wurzeln bildet und zu einer neuen Pflanze heranwächst

überspielen – einen Spielfilm, Musik o. Ä. von einem Band o. Ä. auf ein anderes bringen

LP – long-playing record (engl.) – Langspielplatte

Aufgaben

1 Fassen Sie die Informationen über die handelnden Personen zusammen.

2 Interpretieren Sie die zusammengefassten Informationen.

3 Wie geht die Geschichte weiter? Stellen Sie Hypothesen auf.

L. Rathenow

Szenenwechsel

Die Lichtung unweit der Stadt. Vögel.

Das Laub.

Mischwald. Stille.

Die Sonne.

Der Weg durch diese Lichtung.

Auf dem geht Bert Franke.

Abschalten, einmal ausspannen, vergessen die Stadt, den Lärm, die Fabrik. Sich erholen, sich richtig gehenlassen.

Ein schöner Tag, denkt er.

Herbert Koch läuft denselben Weg entlang. Nur von der anderen Seite.

Gut, dass kein Ausflugslokal in der Nähe, die Spaziergänger sonst, vielleicht noch mit Autos; langt, wenn sie die Stadt verpesten. Und die Unfälle. Hoffentlich kommt die Sonne richtig durch, denkt er.

Beide laufen langsam aufeinander zu.

Einmal allein sein, ohne Bekannte und das Gerede. Viel öfter müsste man einfach so, überlegt Bert Franke, loslaufen ohne Ziel.

Pilze könnten hier stehen, dort hinten stehen sicher Pilze, überlegt Herbert Koch, Pfifferlinge vielleicht nicht, aber Maronen, Edelreizker. Etwas feuchter müsste es werden. Bert Franke spielt mit seinem Haar, dreht den Kopf schnell nach rechts, schnell nach links, so dass es ins Gesicht schlägt, sich im Bart verfängt.

Herbert Koch will nicht mehr an Pilze denken. Er pfeift ein Lied und, ohne es zu beenden, wechselt er zu einer anderen Melodie, steckt das zu kurze Hemd in die Hose, aus der es immer herausrutscht.

Dahinschlendern.

Die fast geschlossene Decke aus Laub zertreten.

Spazierengehen. Gammeln.

Noch recht kräftig die Sonne, ein schöner Herbst, wer hätte das gedacht, nach diesem Sommer.

Die Jacke hätte ich nicht mitzunehmen brauchen, nur eine unnötige Last, die Jacke hätte ich zu Hause lassen können. Aber im Schatten ist es schon kühl, denkt Bert, im Schatten friert man fast.

Doch man weiß vorher nie, denkt Herbert, schließlich regnet es oft unerwartet.

Beide kommen sich näher.

Bert beobachtet die Wolken am Himmel.

Herbert einen Igel im Gestrüpp.

Ein Eichhörnchen, das sich von Ast zu Ast bewegt.

Das Netz zitternder Zweige.

Dieser Geruch.

Herbert Koch sieht einen jungen Mann.

Bert Franke bemerkt einen älteren Mann.

Vielleicht siebzehn, denkt Herbert. Vielleicht sechzig, überlegt Bert.

Bei dem Beet am Zaun mache ich die zwei alten Reihen noch diese Woche weg. Die tragen nichts mehr, neue Senker müssen rein, sonst wächst keine ordentliche Beere. Wo die Enkel Erdbeeren so gern essen. Friedrich mal fragen, Friedrich hat bestimmt Senker übrig.

Bei Martin anschließend vorbeisehen, auf dem Rückweg. Oder ich hole zuvor das Tonband, die „Pinkfloyd“ könnte ich dann überspielen, die Stones gleich mit. Martin müsste da sein, zu spät darf ich nicht hingehen. Hoffentlich hat er die LPs noch.

Bert und Herbert treffen sich bald.

Jeder mustert sein Gegenüber.

Drei Schritte noch oder vier.

Aufgabenblatt 3

Nehmen Sie an der Diskussion über die Generationenkonflikte teil. Es werden 3 Kleingruppen gebildet: eine Gruppe „Väter“, eine Gruppe „Söhne“, eine Gruppe „Schiedsrichter“. Die Gruppen „Väter“ und „Söhne“ äußern sich zum Problem des Generationenkonflikts. Sie geben die Ansprüche bekannt, die Sie an die andere Generation stellen. Die Gruppe „Schiedsrichter“ muss die beiden Generationen versöhnen und eine Brücke zwischen ihnen schlagen.

Wortschatzhilfen

1) den klassischen Generationenkonflikt durchleben;

2) die Entfremdung der Generationen;

3) Gehen die Generationen auseinander oder gehen sie aufeinander zu?

4) Wie sehen die Lebensentwürfe der Jugendlichen aus?

5) die Selbstverwirklichung;

6) die Selbstbestätigung;

7) seine Rolle selbst bestimmen;

8) die Zukunft erobern;

9) Abschied von der Kindheit nehmen;

10) das Leben verändern;

11) die Jahre zwischen Fisch und Fleisch – Jahre zwischen Kind- und Erwachsensein;

12) die Schwierigkeiten mit sich selbst haben;

13) Es entstehen zahlreiche Konflikte mit der Umwelt.

14) des eigenen Ich bewusst werden;

15) sich in das Leben der Erwachsenen eingliedern;

16) die Unabhängigkeit von Vater und Mutter;

17) die Eltern entthronen;

18) je-n bevormunden – je-n nicht selbständig handeln lassen;

19) sich gegen Bevormundung stellen;

20) gegen etw. protestieren;

21) Es kommt häufig zur Protesthaltung.

22) sich gut / schlecht miteinander verstehen (vertragen);

23) mit je-m gut / schlecht auskommen;

24) verständnisvolle Eltern;

25) das Verständnis für etw. haben;

26) je-m gegenüber tolerant sein;

27) die Toleranz, die Geduld, die Engelsgeduld haben, zeigen;

28) Rücksicht auf etw. nehmen;

29) je-s Argumente ernst nehmen;

30) (keinen) Zwang auf je-n ausüben;

31) den Kindern alles vorschreiben – je-m sagen oder befehlen, was er tun muss;

32) keinen Blick für die Probleme anderer haben;

33) keinen Kontakt zu, mit je-m haben

1.2 Andere Zeiten – andere Sitten

1 Kennen Sie die altdeutsche Sage von dem Rattenfänger zu Hameln? Können Sie die Fabel dieser Geschichte wiedergeben?

2 Machen Sie sich mit einer modernen Variation der altdeutschen Sage bekannt und bestimmen Sie, worin sich dieser Text von dem Präzedenztext im Sujet und Ideengehalt unterscheidet.

H. Wader

Der Rattenfänger (1974)

Lesehilfen

die Leier – ein Musikinstrument mit Saiten

der Riegel – ein Stab aus Metall oder Holz, den man vor etw. schiebt, um es so zu sichern

die Brut – hier: das Gesindel, das Pack

der Kadaver – der Körper eines toten Tieres

das Wams – eine Art Leibrock

betroffen – durch etw. Schlimmes oder Trauriges emotional sehr bewegt

lahm – (Körperteile) so beschädigt, dass man sie nicht mehr (wie normal) bewegen kann

der Knebel – ein Stück Stoff, das mst einem Gefesselten fest in den Mund gesteckt wird, damit er nicht schreien kann

etw. in Kauf nehmen – sich mit etw. abfinden

je-n gegen etw. aufhetzen – je-n dazu bringen, über je-n / etw. wütend oder verärgert zu sein

  • Fast jeder weiß, was in Hameln geschah,
  • vor tausend und einem Jahr.
  • Wie die Ratten dort hausten, die alles fraßen,
  • was nicht aus Eisen war.
  • Zu dieser Zeit kam ich nach langer Fahrt
  • als Spielmann in diese Stadt,
  • Und ich hörte als erstes den Herold schrein,
  • als ich den Markt betrat.
  • Wer mit Gottes Hilfe oder allein
  • die Stadt von den Ratten befreit,
  • für den lägen ab nun beim Magistrat
  • hundert Taler in Gold bereit.
  • Ich packte mein Bündel, die Flöte und Leier
  • und klopfte ans Rathaustor.
  • Kaum sah man mich, schlug man die Tür wieder zu,
  • und legte den Riegel vor.
  • Und ich hörte, wie man den Herren sagte,
  • es stünde ein Mann vor dem Tor,
  • zerrissen und stinkend, in bunten Lumpen
  • mit einem Ring im Ohr.
  • Dieser Mann nun ließe den Herren sagen,
  • er kam von weit, weit her,
  • und er böte der Stadt seine Hilfe, weil
  • er ein Rattenfänger wär.
  • Ich wartete lange, dann rief eine Stimme
  • durch die geschlossene Tür:
  • Vernichte die Ratten, und Du bekommst
  • die versprochenen Taler dafür.
  • Und ich ging und blies in der Nacht die Flöte,
  • immer nur einen einzigen Ton,
  • der so hoch war, dass nur die Ratten ihn hörten,
  • und keine kam davon.
  • Bis hinein in die Weser folgte mir bald die ganze
  • quiekende Brut,
  • und am Morgen trieben an hunderttausend
  • Kadaver in der Flut.
  • Als die Hamelner Bürger hörten, was alles
  • geschehen war in der Nacht,
  • tanzten sie auf den Straßen, nur
  • an mich hatte keiner gedacht.
  • Und als ich dann wieder vorm Rathaus stand
  • und forderte meinen Lohn,
  • schlug man auch diesmal die Tür vor mir zu
  • und erklärte mir voller Hohn,
  • nur der Teufel könne bei meiner Arbeit
  • im Spiel gewesen sein,
  • deshalb sei es gerecht, ich triebe bei ihm
  • meine hundert Taler ein.
  • Doch ich blieb und wartete Stunde um Stunde
  • bis zum Abend vor jenem Haus,
  • aber die Ratsherren, die drinnen saßen,
  • trauten sich nicht heraus.
  • Als es Nacht war, kamen bewaffnete Kerle,
  • ein Dutzend oder mehr,
  • die schlugen mir ihre Spieße ins Kreuz
  • und stießen mich vor sich her.
  • Vor der Stadt hetzten sie ihre Hunde auf mich,
  • und die Bestien schonten mich nicht.
  • Sie rissen mich um und pissten mir noch
  • ins blutende Gesicht.
  • Als der Mond schien, flickte ich meine Lumpen,
  • wusch meine Wunden im Fluss
  • und weinte dabei vor Schwäche und Wut,
  • bis der Schlaf mir die Augen schloss.
  • Doch noch einmal ging ich zurück in die Stadt
  • und hatte dabei einen Plan,
  • denn es war Sonntag, die Bürger traten
  • eben zum Kirchgang an.
  • Nur die Kinder und die Alten
  • blieben an diesem Morgen allein,
  • und ich hoffte die Kinder würden gerechter
  • als ihre Väter sein.
  • Ich hatte vorher mein zerfleischtes Gesicht
  • mit bunter Farbe bedeckt
  • und mein Wams, damit man die Löcher nicht sah,
  • mit Hahnenfedern besteckt.
  • Und ich spielte und sang, bald kamen die Kinder
  • zu mir von überall her,
  • hörten, was ich sang mit Empörung
  • und vergaßen es nie mehr.
  • Und die Kinder beschlossen, mir zu helfen
  • und nicht mehr zuzusehn,
  • wo Unrecht geschieht, sondern immer gemeinsam
  • dagegen anzugehn.
  • Und die Hamelner Kinder hielten ihr Wort
  • und bildeten ein Gericht,
  • zerrten die Bosheit und die Lügen
  • ihrer Väter ans Licht.
  • Und sie weckten damit in ihren Eltern
  • Betroffenheit und Scham,
  • und weil er sich schämte, schlug manch ein Vater
  • sein Kind fast krumm und lahm.
  • Doch mit jeder Misshandlung wuchs der Mut
  • der Kinder dieser Stadt,
  • und die hilflosen Bürger brachten die Sache
  • vor den hohen Rat.
  • Es geschah, was heute noch immer geschieht,
  • wo Ruhe mehr gilt als Recht,
  • denn wo die Herrschenden Ruhe woll’n,
  • geht’s den Beherrschten schlecht.
  • So beschloss man die Vertreibung
  • einer ganzen Generation.
  • In der Nacht desselben Tages begann
  • die schmutzige Aktion.
  • Gefesselt und geknebelt,
  • von den eigenen Vätern bewacht,
  • hat man die Kinder von Hameln ganz heimlich
  • aus der Stadt gebracht.
  • Nun war wieder Ruhe in der Stadt Hameln,
  • fast wie in einem Grab.
  • Doch die Niedertracht blühte, die Ratsherren fassten
  • eilig ein Schreiben ab.
  • Das wurde der Stadtchronik beigefügt
  • mit dem Stempel des Landesherrn
  • und besagt, dass die Kinder vom Rattenfänger
  • ermordet worden wär’n.
  • Doch die Hamelner Kinder sind nicht tot,
  • zerstreut in alle Welt,
  • haben auch sie wieder Kinder gezeugt,
  • ihnen diese Geschichte erzählt.
  • Denn auch heute noch setzen sich Menschen
  • für die Rechte Schwächerer ein,
  • diese Menschen könnten wohl die Erben
  • der Hamelner Kinder sein.
  • Doch noch immer herrscht die Lüge
  • über die Wahrheit in der Welt,
  • und solange die Gewalt und
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